Nach vorne denken

Vor 80 Jahren, am 26. August 1944, wurde Adam von Trott für seinen Widerstand gegen das NS-Unrechtsregime im Kreisauer Kreis und seine Unterstützung des Hitler-Attentats vom 20. Juli gegen hingerichtet.

Können wir uns die Szene vor 80 Jahren im Frühling vorstellen? Nacht für Nacht kreuzen die Bomber am Himmel. Dass Deutschland den Krieg verliert, ist seit Monaten offensichtlich. Das Gut der Familie Trott in Imshausen ist mit Geflüchteten überfüllt. Die Trotts mögen Aristokraten sein, aber alles ist knapp. Clarita von Trott, die hierhergezogen ist, um den Berliner Bombenangriffen zu entkommen, sucht nach Essen, nach Kleidung, nach Seife, um die Windeln ihrer kleinen Töchter zu waschen. Sie freut sich über jeden Brief von Adam, ihrem Ehemann, aus Berlin. Es sind nur noch wenige Monate bis zum Hitler-Attentat am 20. Juli, und nur noch ein weiterer, bis Adam für seine Rolle im Widerstand hingerichtet wird.

Aber bisher ist Adam in Berlin. Der Krieg ist hier apokalyptisch geworden, schreibt er seiner Mutter nach Hause. Seine Sekretärin Hilde Walter ist gerade zusammen mit ihrer Schwester und ihren Eltern umgekommen, als ein Bombenangriff ihre Wohnung traf, erzählt er Chris Bielenberg, seiner und Claritas enger Freundin, die ihn überraschend besucht. Auch sie ist mit ihren kleinen Kindern aus Berlin geflohen. Adams Haushälterin Emma hat aus Resten eine Suppe gezaubert. Sie schmuggelt ihre wenigen Fleischstücke auf Adams Teller, weil er elend und abgemagert aussieht.

Zukunft und Vergeblichkeit
Adam und Chris sprechen über seine vergeblichen Bemühungen, Unterstützung für den Widerstand bei der englischen und der amerikanischen Regierung zu finden. Er ist nach Schweden und in den Vatikan gereist, um Kontakte zu knüpfen und ein Memorandum des Widerstandes zu übermitteln – immer unter Lebensgefahr, aber vergeblich. Kaum jemand scheint zuzuhören.

Und dennoch: "Siehst du, Chris, warum wir vorausplanen müssen? Warum wir für das planen müssen, was kommt, für das, was danach kommt", sagt er zu Chris, der aus England stammenden Freundin. Vor knapp einem Jahr hat Adam am letzten großen Widerstandstreffen auf dem Gut von Helmuth James und Freya von Moltke in Kreisau teilgenommen. Drei Tage lang haben die Widerstandskämpfer*innen ihre Pläne für ein demokratisches Deutschland nach dem Krieg diskutiert. Für Adam waren die Gespräche wie ein Geschenk - und sie waren anstrengend: Eigentlich ist es kaum vorstellbar, dass sich Sozialdemokraten und Konservative, Aristokraten und Gewerkschafter, Protestanten und Katholiken an einen Tisch setzen. Doch alle haben über die letzten vier Jahre hinweg gemeinsam nachgedacht und miteinander überlegt: Wie bauen wir eine neue Demokratie auf? Wie gestalten wir eine friedliche Gesellschaft? Wie wollen wir in Zukunft leben?

Ein neuer Kreisauer Moment?
Heute, achtzig Jahre später, scheint es, als stünden wir erneut vor einem Kreisauer Moment: Krieg und Gewalt dominieren unsere Schlagzeilen. Die seit dem Zweiten Weltkrieg etablierte westlich-liberale Ordnung bröckelt. Polarisierung und Populismus unterhöhlen unseren gesellschaftlichen Dialog, der Aufstieg der extremen Rechten unsere Demokratie. Zunehmende Ungleichheit gefährdet unser soziales Miteinander und verschärft Ressourcenkonflikte im In- und Ausland. Die Pandemie hat die Menschen über alle Generationen hinweg erschöpft. Die zur internationalen Konsensbildung geschaffenen multilateralen Institutionen werden von neuen Nationalismen und geopolitischen Rivalitäten torpediert. Und über allem hängt die Klimakrise als größte neue Verteilungsfrage unserer Zeit: Immer unwiderlegbarer beobachten wir, dass unsere Wirtschafts- und Lebensweise unser irdisches Zuhause und damit unsere Existenzgrundlage gefährdet.

"Alles wirkt gleichzeitig auf alle ein", beschreibt Adam Tooze die kollektive Erfahrung heute – und angesichts dieser "Polykrise" stehen wir erneut vor der Herausforderung, einen neuen Konsens zu finden: Wie wollen wir leben? Auf welchen Werten soll unsere Zukunft fußen? Was muss sich ändern, um mehr Fairness, mehr Inklusivität und eine gerechtere Beteiligung für alle zu ermöglichen? Ein Miteinander also, das auch Stabilität, Sicherheit und langfristige Nachhaltigkeit gewährleisten kann?

Im Dunkeln hoffen
Welche Inspiration bieten Adam von Trott und der Widerstand des Kreisauer Kreises in unserer Polykrise heute? Wir können vor allem die Kraft des „Und dennoch“ wiederentdecken, über das Adam mit Chris Bielenberg an jenem Abend vor 80 Jahren sprach. Er und seine Gefährt*innen im Kreisauer Kreis lebten nicht nur mitten im Krieg. Sie hatten auch täglich vor ihren Augen, wie klein die Chancen ihres Widerstandes doch waren und wie groß die Möglichkeit, dass sie nichts bewirken und stattdessen Haft und Hinrichtung folgen würden. Sie kannten Angst – und dennoch handelten sie.

Heute hingegen scheinen wir von Angst gelähmt zu sein: Laut einer aktuellen Umfrage fällt es 73 Prozent der Menschen in Deutschland heute schwer, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Noch schlimmer ist, dass gerade junge Menschen von Angst überwältigt sind: Mehr als 80 Prozent der heutigen 16- bis 25-Jährigen glauben, dass sie einer beängstigenden Zukunft entgegengehen. Vier von fünf fühlen sich angesichts mangelnden Klimaschutzes von ihren Regierungen betrogen, so die Forschungsergebnisse einer Studie von zehn Ländern.

Adam and Clarita von Trott bei seinem letzten Besuch in Imshausen Credits: Foto: Stiftung Adam von Trott, Imshausen e. V.

Wenn die Angst am Ärmel zerrt, ist es schwierig, neue Zukunftsbilder auszumalen – und dann auf sie hinzuarbeiten. Die Geschichte Adam von Trott des Kreisauer Kreises kann Ermutigung sein, als Einzelne und als Gesellschaft diese Blockade zu widerwinden. Hoffnung ist nicht naiv: Sie ist die Bereitschaft, ins Offene zu handeln, und der Mut anzuerkennen, dass das Ergebnis ungewiss ist. Doch haben nicht alle großen sozialen Transformationen so begonnen? Adam und seine Freunde mögen vor 80 Jahren gescheitert sein, doch sie inspirieren noch heute – und ein Blick in die Geschichte offenbart zahllose Beispiele gelungener Transformation, von etwas so Kleinem wie der Erfindung des Rollstuhls bis hin zu etwas so Großem wie der Bill of Rights und das Ende der Sklaverei.

"Lassen wir uns auf Ungewissheit ein, dann erfahren wir, dass wir das Geschehen auf der Welt beeinflussen können - allein oder mit ein paar Dutzend oder mit Millionen Anderen", schrieb die US-Historikerin und Aktivistin Rebecca Solnit treffend. Entscheidend ist auch: Ins Offene zu handeln heißt auch, den Feinden der Demokratie die eigene Furcht nicht als Waffe zu überlassen. Zukunftsangst und vermeintliche Perspektivlosigkeit sind die Einfallstore für rechtsextreme Narrative und populistische Verführung, wie die Nachfahren des Widerstandes – unter ihnen Adams Töchter Verena Onken von Trott und Clarita Müller-Plantenberg – in einem gemeinsamen Demokratie-Appel in diesem Frühjahr betonten.

Die Kraft der Vielfalt und des Dialogs
Die Kraft von Vielfalt und Dialog ist eine weitere Kreisauer Lektion, die auch heute nicht aktueller sein könnte. Wie die Botschaft der Hoffnung kann sie unser Verhalten und unser Miteinander als Bürgerinnen und Bürger inspirieren. Sie ist zugleich eine Aufgabe, der sich die Verantwortlichen in Politik und Zivilgesellschaft dringend stellen müssen. Adam und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Widerstand erkannten die Notwendigkeit, Brücken über Unterschiede hinweg zu bauen und Konsens zum Wohle der Demokratie und des Gemeinwohls zu finden.

Im Gegensatz dazu stehen die showgetriebenen Debatten und das billige Kämpfen noch um kleinste parteipolitische Platzvorteile, das den Diskurs der politischen Führungsriegen heute vielfach zu bestimmen scheint. Wenn politische Entscheiderinnen und Entscheider selbst etablierter Parteien gesellschaftliche Polarisierung zusätzlich befeuern, dann untergraben sie letztlich ihre eigene Fähigkeit, , mit Diversität und Dialog die Wege in eine bessere Zukunft und eine bessere Demokratie zu gestalten. Die Gespräche in Kreisau waren anstrengend und dennoch ein Geschenk, schrieb Adam von Trott an seine Frau. Gute Regierungsführung ist harte Arbeit und ehrliche Verhandlung. Respekt vor Unterschieden ist die Brücke zu gemeinsamen Lösungen. Auch das kann uns Kreisau lehren.

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